Tuesday, May 29, 2012

Kolumne 11: Grosse und kleine Unterschiede

Wir sitzen am Bosporus in Istanbul und trinken einen letzten türkischen Kaffee. Die Sonne wärmt, die Füsse stecken in Flipflops und weit weg wirken die letzten elf Monate, in denen es kein anderes Schuhwerk als Wanderschuhe gab. Eben hat uns der Kellner gefragt, ob wir aus Basel, Sion oder Xamax seien und sich dabei gleich selbst verraten. Türken sind unverbesserliche Zocker. Sportwettbüros stehen an jeder Ecke und man kann bis hinunter in die Schweizer Regionalliga wetten. Da unterscheiden sie sich nicht gross von den Zyprioten, den Griechen, Bulgaren und Montenegrinern. Selbst im kleinsten Bergkaff gibt es ein Wettbüro, während wir oftmals vergebens nach frischen Lebensmitteln Ausschau gehalten haben. 

Zum Glück sind die Menschen hilfsbereit, in Griechenland gaben uns alte Frauen mehrmals die Hälfte ihres auch nicht mehr ganz frischen Brots ab, in der Türkei teilten nette Bergbewohner ihr Gemüse mit uns, und in Montenegro luden sie uns meist grad ganz zum Essen ein: Brot, selbstgemachten Käse und montenegrinischen Kaffee.

Nur in Bulgarien haben wir nicht so gute Erfahrungen gemacht. Unser Zelt wurde an einem idyllischen See in den Bergen von Unbekannten mit einem Messer attackiert, und auf dem Markt versuchte sogar der Wurstverkäufer, uns zu betrügen. So standen wir trotz der beeindruckenden Berglandschaften immer ein bisschen auf Kriegsfuss mit Bulgarien. Ganz schön unfair, wie zwei, drei schlechte Erfahrungen gleich Vorurteile über ein ganzes Land entstehen lassen.

Zum Glück wurden wir ansonsten von grösseren Unannehmlichkeiten verschont. Kein gebrochenes Bein, kein kaputtes Knie. In Italien setzten uns die Mücken zu und in Griechenland die Flöhe, die wir wahrscheinlich beim Olivenernten aufgelesen hatten. Entgegen der Volksmeinung wird man die Viecher aber leicht wieder los, nur die Bisse quälten uns einige Tage arg. Olivenbauer Stefanos pflegte uns mit Aloe Vera aus seinem Garten und tröstete uns mit griechischem Kaffee. 

Ja genau, Kaffee ist in den hiesigen Gegenden national. Auch wenn das Servierte immer gleich ist, ein starkes Gebräu in kleinen Tässchen mit viel Zucker und viel Kaffeesatz, ändert sich die Bezeichnung von Land zu Land. Je nachdem gibt es montenegrinischen, serbischen, griechischen oder türkischen Kaffee. In Zypern wird gar auf der Nordseite türkischer Kaffee getrunken, auf der Südseite zypriotischer. Auf die richtige Bezeichnung sollte man penibel achten, um keine Gefühle zu verletzen oder leicht eingeschnappt korrigiert zu werden.

Die Gemeinsamkeiten zwischen den Ländern sind sowieso gross, nur werden aus politischen Gründen oftmals lieber die Unterschiede betont. Da schwärzen die Bulgaren ihre griechischen Nachbarn als laut und faul an, die Griechen warnen einen davor, in die Türkei zu reisen, weil dort unzivilisierte Menschen leben würden, und die Montenegriner finden die Kosovaren rückständig und barbarisch.

 Dabei mögen die Menschen in diesen Ländern ähnliche Musik, essen alle gerne Teigtaschen mit Käse oder Fleisch drin (je nach Land Burek, Börek, Banitsa oder Pita genannt), nehmen Trinkjoghurt dazu und spielen leidenschaftlich gerne Backgammon. Und das liebste Hobby der Männer neben Sportwetten und Backgammon? Ist überall das Jagen. Sogar die farbigen Patronenhülsen, die auf den entlegensten Pfaden zu finden sind, entstammen derselben Fabrikation. Auch der Frust, nichts erlegt zu haben, äussert sich in etwa gleich: Dann schiesst man halt auf Wanderwegbeschilderungen, die trifft man wenigstens und nutzlos sind sie obendrein. Denn auch darin sind sich alle einig: Wer käme schon auf die wahnwitzige Idee, hier freiwillig zu Fuss und mit schwerem Rucksack vorbeizuziehen?
(Erschienen in der Berner Zeitung vom 21. Mai 2012)

Thursday, April 26, 2012

Kolumne 10: Ganz ordentliche «Missgeburt»


Tatort: Auf Forststrassen im hügeligen Inland von Zypern.

Es ist manchmal nicht ganz einfach, Wanderrouten zusammenzustellen. Zwar gibt es in den meisten Ländern Weitwanderwege, zu vielen existiert jedoch wenig bis gar keine Information. Im Internet lässt sich aber zum Glück häufig eine Art Vorbild finden – jemand, der diesen Weg schon gegangen ist und davon berichtet hat. Dieser Vorgänger mausert sich im Verlauf der besagten Tour nicht selten zu einer Referenzperson, von der wir sprechen, als ob wir sie persönlich kennen würden.

So auch für den Weg quer durch Südzypern, der erst vor kurzem eröffnet wurde und selten begangen wird. Eine österreichische Tierärztin war ein Jahr vor uns hier und hat der Route auf ihrem Blog das Prädikat «Missgeburt» verliehen.

Wenigstens sind wir vorgewarnt worden, dachten wir uns, als wir die ersten Kilometer auf einer Asphaltstrasse nach Wegsignalisierungen Ausschau hielten. Die Mandelbäume blühten, und auch die Blumen standen in voller Blüte, der Mohn, Alpenveilchen und Lilien. Die Sonne schien, es war frühsommerlich warm. Und nach einiger Suche fanden wir auch den markierten Weg, den wir von da an für zwei Wochen fast nie mehr verloren. Die Tierärztin, die über die schlechte Signalisierung geklagt hatte, verlor bereits ein paar von ihren Vorschusslorbeeren. 

Das Inland von Zypern ist im Gegensatz zur Küste sehr untouristisch, oftmals führen Forststrassen stundenlang durch menschenleeres Gebiet. Es gibt Echsen und Geckos, die ihre Köpfe eigenartig schubweise bewegen und sich ansonsten starr an der Sonne aufwärmen. Es gibt das Mufflon, das zypriotische Wappentier, das ähnlich wie ein Reh aussieht, aber rund gewölbte Hörner hat und sich tatsächlich ab und zu blicken lässt. Und es gibt immer wieder Picknickplätze, perfekt geeignet für uns, um zu übernachten. Denn es hat dort Wasser, es hat Bänke und Tische, und wir können unser Zelt aufstellen, ohne zu fürchten, dass wir jemanden stören. Es ist ja gar niemand da. 

Die Tierärztin hat verschiedene Picknickplätze erwähnt – und auch geschildert, wo es Wasser gibt. In solchen Momenten loben wir sie wieder in den höchsten Tönen. Denn die Wasserversorgung ist beim Weitwandern essenziell. Ohne Wasser kann abends nicht gekocht werden, die Zähne lassen sich nicht putzen, und morgens gibt es keinen Kaffee.


Nur – irgendwie hat unser Vorbild eine schlechtere Tour gehabt als wir. Vielleicht, weil sie im Februar unterwegs war und ständig Regen hatte? Oder vielleicht auch, weil sie sich mehrmals verirrte, während wir zum Glück nie wirklich falsch gingen. Und so konnten wir bei allem guten Willen auch die Schadenfreude nicht ganz unterdrücken, als wir selbstsicher eine rostige Kinderrutsche passierten, an der die arme Tierärztin bei Dauerregen angeblich gleich mehrmals vorbeigekommen war.
(Erscchienen in der Berner Zeitung vom 25. April 2012)

Thursday, March 29, 2012

Kolumne 9: Bräteln beim ewigen Feuer

Tatort: Çirali, ein Ort an der türkischen Mittelmeerküste.

Mitten im Wald steht ganz unerwartet ein improvisiertes Teehaus. An einemwackeligen Pult klebt ein ausgeblichener Zettel: 3.75 türkische Lira, knapp 2 Franken. So viel soll zahlen, wer den alten Pflasterweg hoch will, um Yanartas, den brennenden Stein, zu sehen.

Der rundliche Ticketverkäufer, der rund um die Uhr da ist und zugleich das Teehaus bedient, lächelt breit und fragt, obwir eine Lampe dabei haben.Wir nicken undmachen uns auf denWeg. 250 Höhenmetermüssen wir auf dem holprigen Pfad überwinden, bis wir plötzlich einen vertrauten Geruch wahrnehmen. Wir schnuppern. Ganz eindeutig: Es riecht nach Fondue Chinoise. Und jetzt sehen wir auch die Flammen, aus einiger Distanz wirken sie wie Lagerfeuer, die unweit voneinander lodern. Das Feuer brennt aber immer, Tag und Nacht. Denn genau hier strömen Gase aus demfelsigen Abhang, die sich beim Kontakt mit der Luft entzünden.

Die Flammen haben im Laufe der Zeit Einbuchtungen in den Felsen gefressen, so dass sichmit einiger Fingerfertigkeit Grillstellen und sogar Backöfen basteln lassen. Darum sind wir auch nicht unvorbereitet gekommen: In eine Hohlstelle legen wir ganze Kartoffeln, einen flachen Stein nutzen wir als Grill für unsere selbstgebasteltenWurstspiesse. Der Ort ist schon seit der Antike bekannt. Ob sie wohl damals auch auf
solche Ideen wie wir gekommen sind? Oder wirkten diese Flammen, die ohne äussere Einwirkung immer weiterbrennen, eher einschüchternd auf unsere Vorfahren?

Überliefert ist, dass die Flammenfelder damals grösser gewesen sein müssen und bis zum Meer leuchteten,wo sie Seefahrern Orientierung gaben. Und natürlich spielen diese Flammen auch in der griechischen Mythologie eine Rolle: Hier soll Chimaira, ein feuerspeiendes Mischwesen mit drei Köpfen, gelebt haben. Es wurde vom mutigen Bellerophon und seinem geflügelten Pferd Pegasus bekämpft und erfolgreich unter einem Bleiklumpen vergraben. Ganz töten konnte er es allerdings nicht, und so spuckt das Ungeheur bis heute ununterbrochen Feuer unter dem Felsen hervor.

Mittlerweile ist es dunkel geworden. Die Flammen der Chimaira wirken jetzt noch eindrücklicher. Die Kartoffeln sind gar und ganz und gar nicht schwarz gebrannt – ein perfekter Backofen. Und doch scheint dasMonster noch nicht ganz gezähmt, beim Grillieren trägt der Expeditionspartner ein paar krausgebrannte
Haupthaare davon. Aber was nimmt man für ein gutes Essen unter strahlendem Sternenhimmel nicht alles
in Kauf?
(Erschienen in der Berner Zeitung vom 24. März 2012

Saturday, February 18, 2012

Kolumne 8: Dauerlauf durch einen archäologischen Vergnügungspark


Tatort: Türkei, die geschichtlich schwerbeladene lykische Küste.

Es tut gut, endlich wieder zu Fuss unterwegs zu sein. Zwar ist es momentan auch an der türkischen Küste noch kühl, aber von den grossen Schneefällen, die es im Rest des Landes gegeben hat, sind wir verschont geblieben. Und so wandern wir nun den Lykischen Weg, der sich über 500 Kilometer dem Mittelmeer entlangzieht. 

Im Sommer soll es hier von englischen und deutschen Touristen nur so wimmeln, jetzt sind wir ganz allein mit zahllosen Ruinen. Etwa so ähnlich muss sich ein Dauerlauf durch einen archäologischen Vergnügungspark anfühlen. Immer wieder gibt es dorische und ionische Säulen zu betrachten, Torbogen zu passieren, Steinsarkophage zu bestaunen. Die Türken haben einen bewundernswert pragmatischen Umgang mit dem Vergangenen: Altgriechische Tempel werden schon mal mit Gewächshäusern umstellt, und grasende Schafe in einem imposanten antiken Theater sind kein seltener Anblick. Schliesslich muss der Rasen ja gemäht sein. Das nennt sich dann «türkische Denkmalpflege».

Auch das Geisterdorf Kayaköy gleicht einem riesigen Freilichtmuseum. Einmal lebten Hunderte von griechischen Familien an diesem felsigen Berghang in der Nähe der Küstenstadt Fethiye. Doch dann beschlossen die griechische und die türkische Regierung 1922, einen Bevölkerungsaustausch zu machen. Griechen auf türkischem Gebiet wurden nach Griechenland umgesiedelt und umgekehrt. Die Menschen aus Kayaköy zogen nach Kreta und Athen. Für sie kamen griechische Türken, doch als Bauern bevorzugten sie die fruchtbarere Ebene. Darum leben heute in Kayaköy nur noch ein paar Ziegen. Durch die Häuserruinen kann man herrliche Entdeckungstouren unternehmen, findet noch intakte Zisternen, grasüberwachsene Treppen und verrusste Kamine. Ein Dach haben einzig die beiden Kirchen im Dorf, bei den anderen Häusern sind die Dächer abgetragen worden. Wahrscheinlich, weil die pragmatischen Türken das Holz als Baumaterial gebraucht haben.
(Erschienen in der Berner Zeitung vom 17. Februar 2012)

Wednesday, February 8, 2012

Zu Besuch bei Serafettin und Sangül

Sangül und Serafettin sind Türken. Sangül und Serafettin sind aber auch Aussteiger. Etwas, was wir in der türkischen Provinz nicht erwartet hätten. Das Ehepaar lebt im kleinen Weiler Alinca, abgeschieden von der Stadt, hoch über dem Meer, so hoch, dass das Wasser sich etwa 600 Höhenmeter weiter unten befindet. In Istanbul war Serafettin Computeringenieur, Sangül hat bei einer Versicherung gearbeitet - und sie hielten das Grossstadtleben nicht mehr aus. Beide waren in der Millionenstadt aufgewachsen, doch sie hatten diesen Traum. Ein Haus mit eigenen Händen bauen, die Nahrungsmittel, so gut es geht, selbst herstellen und verarbeiten, besser und einfacher leben. Vor knapp einem Jahr haben sie ihre Pension Alamut am lykischen Weg eröffnet. Vorher bauten sie drei Jahre an ihrem Traumhaus, das nun richtig heimelig und einladend wirkt.
Warum das berichtenswert ist? Weil sich die Träume doch überall irgendwie ähneln.

Saturday, January 21, 2012

Auf den Hund gekommen



Begegnung 1 (Juli 2011)

Art: Strassenhund, schwarz und ziemlich übergewichtig.

Getroffen: Auf dem Campingplatz in Opi, Italien.

Besonderes: Hat unser Zelt angepisst.

Gemeinsame Erlebnisse: Halbtägige Wanderung durch den alten Abruzzen-Nationalpark, wo Hunde streng verboten sind. Die Frage, ob es besser ist, den Hund durch ignorieren oder Steine schmeissen loszuwerden, hat einen ernsthaften Streit im Expeditionsteam ausgelöst.

Abschied: Auf dem ersten Pass im Nationalpark, durch massiven Einsatz von Steinen.


Begegnung 2 (September 2011)

Art: Strassenhund-Welpe, klein und grau.

Getroffen: Auf dem Campingplatz in Predel, Bulgarien.

Besonderes: War nicht Mutters Liebling.

Gemeinsame Erlebnisse: Wurde in der Nacht von seiner Mutter unter unserem Vorzelt ausgesetzt, nach langer Diskussion nächtliche Rückführung zu Mutter und Brüderchen.

 Abschied: Weiterwanderung am nächsten Tag.


Begegnung 3 (Oktober 2011)

Art: Hüttenhund, klein, grau, verstrubbelt. Nervös.

Getroffen: Früh am Morgen vor der Berghütte beim Aufstieg zum Olymp, Griechenland.

Besonderes: Hat Gämsen gejagt.

Gemeinsame Erlebnisse: Halbtägiger Aufstieg zum Olymp. Musste kurz vor dem Gipfel aufgeben, weil ein Felsspalt nicht überquerbar war. Wartete aber brav, bis wir wieder zurück waren.

Abschied: Wurde einem israelischen Wanderpärchen anvertraut, das ihn wieder zur Hütte zurück geleitete.


Begegnung 4 (November 2011)

Art: Sogenannter Rabbit Dog, althletisch, kurzes Fell und grosse Eier.

Getroffen: Bei einer verlassenen Hütte in den Ausläufern des Taygetos Gebirges.

Besonderes: Hat an einem Fuss hinten nur 3 Zehen.

Gemeinsame Erlebnisse: 2 Tage Wanderplausch durch den Peloponnes. Wurde einmal von Jägern geprüft und als untauglich taxiert, wegen dem fehlenden Zeh.

Abschied: Wir hatten uns schon darauf eingestellt, ihn zu behalten. Wurde kurz vor Schluss der Tour von einem anderen Jäger angeschaut, geprüft und in den Pickup geladen.    



Begegnung 5 (Januar 2012)

Art: Mehrere Strassenhunde, Promenadenmischungen.

Getroffen: In den Gässchen von Oia, auf der griechischen Insel Santorini.

Besonderes: Schienen die Aussicht mindestens ebenso zu geniessen wie wir.

Gemeinsame Erlebnisse: Wanderung von Oia nach Thira (2 hielten durch), Hafenbesuch am nächsten Tag (da war nur noch einer übriggeblieben), der andere wurde am Abend pfötchenhaltend mit einer Dame auf einer Bank gesehen.

Abschied: Nach zwei gemeinsamen Tagen auf der Strasse zurückgelassen.


Monday, January 9, 2012

Kolumne 7: Haare schneiden, Socken stopfen

Tatort: Athen, Griechenland.

Auch wenn wir immer weiter südwärts gezogen sind, hat uns doch der Winter eingeholt. Der ist hier nicht ganz so kalt, aber doch nass und dunkel. Und so sitzen wir nun für einige Wochen in Athen fest. Wanderer in der Grossstadt. Das ist gar nicht so schlimm, schliesslich müssen wir dringend mal Schuhe besohlen, Haare schneiden, Socken stopfen. Ausserdem kann man nicht Wochen in Griechenland verbringen, ohne die krisengeschüttelte Hauptstadt gesehen zu haben, und wir haben endlich mal Zeit, die vergangenen Monate Revue passieren zu lassen.

Zu Fuss unterwegs zu sein, heisst ja auch, sich viel Zeit zu nehmen. Das geht gar nicht anders, denn man kommt langsam voran und ist abhängig von äusseren Umständen, allen voran vom Wetter. Bei Dauerregen gibt es für uns kein Weiterkommen. Punkt. Oder wir verirren uns, was trotz Kompass und Karten immer wieder vorkommt. So sind wir ab und zu an einem Ort gelandet, den wir vorher auf der Landkarte nicht einmal gefunden hätten, und hatten meistens genau da die schönsten Begegnungen, zum Beispiel mit Antigone, einer Athenerin, die wir in einem Bergdorf auf dem Peloponnes trafen. Sie versorgte uns für die Nacht und ist nun in Athen zu einer Freundin geworden, die uns viel über ihr Land erzählen kann. Aber so etwas lässt sich nicht planen. Und das macht auch den Reiz dieses langsamen Vorwärtskommens aus.

Wir suchen uns nicht nur die schönsten, die spektakulärsten, die berühmtesten Orte aus. Das können wir ja gar nicht, denn dazwischen verbringen wir Tage auf Feldwegen und Teersträsschen. Und wir sind auch nicht auf Bilder aus Reiseführern oder den Multimediashows mit fantasielosen Namen wie «Faszination Freeride» aus. Es ist das ganz normale Leben, das plötzlich aufregend ist, weil nichts mehr selbstverständlich ist. Wir sind müde, erschöpft, wir frieren, wir nerven uns über dornenüberwachsene oder nicht existierende Wege, müssen vor bösen Hunden flüchten, verzweifeln fast über juckende Flohbisse, fühlen uns schmutzig und hungrig, kurz: Wir sehnen uns nach all den Annehmlichkeiten der Zivilisation. Und freuen uns dann umso mehr, wenn wir sie wieder haben.

Nach über einem halben Jahr ist das Leben in der Natur ziemlich normal geworden. Während ich früher nachts im Zelt stundenlang wach lag, den unheimlichen Geräuschen lauschte, mir ausmalte, was alles passieren könnte, schlafe ich nun sofort ein. Wir können das Wetter besser deuten, je nachdem, was für Wolken aufziehen. Und wir richten uns nach dem Sonnenauf- und -untergang. Das heisst, in letzter Zeit krochen wir schon um sechs Uhr abends in den Schlafsack und harrten aus bis zu den ersten Sonnenstrahlen kurz vor acht Uhr. Jetzt wird es zum Glück täglich besser, und in ein paar Wochen geht es weiter, in der Südtürkei ist es da hoffentlich schon etwas wärmer.
(Erschienen in der Berner Zeitung vom 07.01.2012)